Wein-Lese-Land Magazin 02/19
Die aktuelle Marbacher Ausstellung zeigt Schulhefte, Kinderbriefe, Schreibübungen, Schriftspiele und Buchstabenerfindungen
Flasche, Glas und Öffner sind die Voraussetzung; die Feinmotorik der Hand macht aus der Ouvertüre zum ersten Schluck dann schon einen Akt der Kultur. Wer die neue Wechselausstellung auf der Schillerhöhe besucht, könnte Parallelen erkennen zwischen der Kunst der Weinverkostung und dem Thema der Ausstellung „Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen“. Ohne Übung geht es in beiden Fällen nicht, der Genuss von Wein will ebenso gelernt sein wie das Schreiben. Und: Man muss die Dinge in die Hand nehmen, bevor sie zu Kopf steigen können. Hands on! Im Englischen bedeutet das: Anpacken, Mitspielen und Ausprobieren. Daraus hat sich im Museumsbereich eine eigene Exponat-Gattung entwickelt, die das klassische »Bitte nicht berühren! « auf den Kopf stellt: das sogenannte Hands on, das berührt werden soll auch in den Marbacher Ausstellungen. Viele Lehrer verbinden mit der Handschrift eine Qualität: Nahezu die Hälfte aller Befragten einer neuen Erhebung meint, dass Schreiben mit der Hand Stil und Rechtschreibung verbessert. Die Idee dahinter ist einfach. Man begreift etwas, indem man es tut oder greift. Beim Schreiben mit der Hand setzen wir 30 Muskeln und 17 Gelenke ein und aktivieren 12 Gehirnareale, die wir dann auch miteinander vernetzen und koordinieren. (Wieviel Körpereinsatz wohl nötig ist, um ein Viertel Wein zu trinken?) Die Marbacher Ausstellung zeigt Schulhefte, Kinderbriefe, Schreibübungen, Schriftspiele und Buchstabenerfindungen von Friedrich Schiller bis Theresia Enzensberger. Mit Gänsekiel, Stahlfeder, Füller, Griffel, Kreide, Kuli, Buntstift und Bleistift wird hier um Buchstaben, Schönschrift und Orthografie gerungen.
Aber schreiben ›mit der Hand‹ bedeutet nicht nur Schreiben mit Stift und Papier: „Auch Menschen, die auf dem Computer tippen, schreiben mit der Hand. Allerdings mit einem kleinen Unterschied: nicht mit einer, sondern mit beiden“, betont die Schriftstellerin Ulrike Draesner. Mangel an Disziplin, an Autoritäts- und Formerfüllungswillen, auch an Talent, Fleiß oder Ehrgeiz, ein ausgeprägtes Maß an Trotz oder auch individueller Ausdruckswille lösen eigenwilligere Buchstabenformen und Schreibhaltungen aus. Kafkas lateinisches K und Kleists Kurrent-K etwa unterscheiden sich deutlich von den Ks anderer Schreiber und variieren zudem in ihren Manuskripten keines der Ks ist identisch, jedes aber ähnlich. Mit dem Einsatz des Computers kommt der Ausdruckswille beziehungsweise die persönliche Note im Schriftbild nicht notwendig zum Erliegen. Kurt Tucholsky tippt 1932 einen Liebesbrief an Hedwig Müller krumm und schief auf dem „Geschäfts-Klavier“: „verzeihen Sie mir die unordentliche und unanständige Form desselben, denn ich schreibe denselben in der Badewanne.“ Ninon und Hermann Hesse personalisieren ihre verschiedenen „Maschinchen“: „merkst Du, wie die Schreibmaschine sich freut, wenn sie einen Akzent machen darf?“ Dass sich in der Zunft der Schreibenden der Wille zum Wein und der Wille zur Schrift meist verbinden, ist bekannt und „ein weites Feld“.
„Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen.“ Eine Rote-Faden-Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne und Schiller-Nationalmuseum. Vom 29. September 2019 bis 1. März 2020. Zur Ausstellung erschien das gleichnamige Marbacher Magazin 167.