Beilstein Der Öko-Winzer Marcel Wiedenmann baut in 470 Meter über dem Meeresspiegel Wein an. Von Karin Götz

Es ist, als ob man in eine andere Welt eintaucht. Fernab von der Hektik und dem Lärm des Alltags. Am strahlend blauen Himmel kreist majestätisch ein Mäusebussard, aus dem Getreidefeld ein paar Meter weiter zirpt es und die Blätter des 150 Jahre alten Apfelbaums wiegen sich sanft im Wind. Marcel Wiedenmann sitzt auf einem der drei großen Stubensandsteine unterhalb des Baumes und erzählt von seinem Traum. Einem Traum, den er seit sechs Jahren träumt und mit einer gehörigen Portion Idealismus, Mut und Beharrlichkeit umsetzt. Stück für Stück. Projekt „Altitude“ hat der Chef des Beilsteiner Weingutes Sankt Annagarten sein Lebensprojekt benannt: ein Weinberg auf einem Hochplateau oberhalb von Kaisersbach, einem der elf Weiler der Stadt Beilstein. Solange er denken kann, kommen er und seine Familie im Dezember in den rund sieben Kilometer entfernten Weiler, um den Wiedenmann’schen Christbaum zu kaufen. 2013 wurde der Baumkauf mit einem Spaziergang verbunden, bei dem Marcel Wiedenmann die große brachliegende Fläche unterhalb des Waldrands ins Auge fiel. „Ich habe mich schon immer für Geologie interessiert und fragte nach dem Spaziergang nach, wem die nicht wirtschaftlich genutzten Grundstücke gehören.“ Nach einigen Sondierungsgesprächen und Verhandlungsrunden konnte der 38-Jährige drei Viertel der 60 Ar Fläche kaufen und den Rest pachten. Beim Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung musste der Winzer einen Antrag stellen, um grünes Licht für die Nutzung als Weinberg zu erhalten. „Denn das war er noch nie“, erklärt Marcel Wiedenmann. Bei der Rebflurbereinigung in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sei der Sommerrain ausgelassen worden. „Das war den Verantwortlichen damals wohl zu teuer und zu riskant.“ 2016 kam schließlich das Okay der Behörde. Es folgten Begehungen mit Vertretern des Naturschutzbundes und der Unteren Naturschutzbehörde im Landratsamt Heilbronn. Weil der Beilsteiner das Ödland in Kulturland umwandeln wollte, musste er eine Ausgleichsfläche schaffen. „Wir haben ein Ackerstück Richtung Auenstein stillgelegt“, berichtet der 38-Jährige. Diesen März ging es dann los. Mit großen Gerätschaften wurde das Areal für das Anpflanzen der Rebstöcke vorbereitet. „Der obere Teil wurde abgegraben, unten wurde aufgelockert und dann kam der Sand oben wieder drauf.“ Dazwischen tauchten immer wieder Felsbrocken auf, die entweder für Trockenmauern genutzt oder zu einem Steinriegel aufgehäuft wurden. Im Mai hat Marcel Wiedenmann mit seinem Team die Rebstöcke gepflanzt. Und zwar links und rechts einer Fläche, die Wiedenmann „Regiefläche“ nennt und in deren Mitte besagter Apfelbaum steht. „Der war über und über voll mit Misteln, die wir sukzessive heruntergeschnitten haben“, erzählt Wiedenmann. „Alle auf einmal, das hätte er nicht verkraftet.“ Dass der Habitatbaum, also ein Baum, der einen besonderen Lebensraum für andere Lebewesen bietet, noch immer steht, daran hat auch Claus-Peter Hutter seinen Anteil. Der Leiter der Umweltakademie Baden-Württemberg war mehrmals mit dem Weinmacher auf dem Plateau, das 470 Meter über dem Meeresspiegel liegt, und hat sich für den Erhalt des alten Baumes eingesetzt. Ebenso wie für das Pflanzen von Schwertlilien. Auf den 40 Ar, die jetzt als Weinberg genutzt werden, wachsen Chardonnay und Riesling. Ersterer ist neu in Wiedenmanns Portfolio und geht auf das Konto von Ehefrau Katharina. „Sie hat mich so lange getriezt, bis ich nachgegeben habe. Ich werde mich endlich der Sorte annehmen“, erzählt der 38-Jährige und lacht. In drei Jahren können die ersten Trauben geerntet werden. Zu den Wein- und Kulturtagen 2023 hofft der Beilsteiner den Gästen ein „erstes Ergebnis“ präsentieren zu können.

Mit dem Projekt „Altitude“ hat sich Marcel Wiedenmann ein Refugium geschaffen, das er einerseits privat, andererseits aber auch für den Betrieb nutzen will. Die ersten Gäste aus Japan und Singapur hat er schon begeistern können. „Sie freuen sich bereits auf den ersten Wein von dort oben.“ Denn eins ist für den umtriebigen Visionär klar: In seinem Refugium reift ein besonderer Wein in einer besonderen Lage, und das wird auch in puncto Marketing genutzt werden. „Wenn man die Trauben woanders dazugibt, dann muss man so ein Projekt gar nicht anfangen. Das Ganze muss auch mit einem eigenen Etikett enden – vermutlich in unserer Linie Generation“, kündigt er an. Schließlich ist auch der Aufwand ein größerer als bei den anderen Weinbergen. Zum einen ist die Anfahrt um einiges länger, zum anderen der Blick auf die Vegetation und den Reifeprozess nicht so einfach. „Ökoweinbau hat viel mit Beobachtung zu tun, aber hier raus kommst du nicht jeden Tag. Das sind alles Aufgaben, die man in den Griff bekommen muss.“ Darüber hinaus kann es sein, dass bei Regen in Beilstein 20 Liter auf den Quadratmeter fallen und in Kaisersbach sind es zur gleichen Zeit 40 Liter. Da braucht es entweder eine Wetterstation vor Ort, oder aber gute Kontakte. Positiv ist hingegen, dass die Trauben etwa zwei Wochen später lesereif sein werden als die an anderen Standorten. „Die Schere zwischen der Zuckerreife und der physiologischen Reife geht immer weiter auseinander. Aber es geht im Sinne einer Nachhaltigkeit nicht um ein schnelles Mostgewicht, sondern um eine langsame Ausreifung. Das sichert den Fortbestand des Rieslings, der dann auch in 30 Jahren noch so schmeckt wie heute.“ Denn 2050 wird es Studien zufolge auch an der Neckarschleife bei Mundelsheim in den terrassierten Lagen Temperaturen geben, die zwar Syrah oder Trebbiano, also Sorten die auch im Süden Europas angebaut werden, gefallen, dem Trollinger hingegen Probleme bereiten“, ist sich Wiedenmann sicher. Auf dem Hochplateau gebe es auch mehr als 30 Grad, aber die Absenkung in der Nacht sei stärker als weiter unten im Tal. Außerdem drehe sich der Wind oft. „Hier entwickelt sich eine unglaubliche Thermik. Es ist einfach ein ganz anderes Mikroklima.“