Bewegung hat auch im 18. und 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt. Heike Gfrereis, Leiterin der Marbacher Museen, gibt Lese-Tourentipps.

Eduard Mörikes Zeichnung der verwechselten Glücksschuh-Paare für „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“

Wir erklimmen Romangebirge, schlagen uns durch Textdschungel, springen und hüpfen in Gedichten, gehen hin und her zwischen den Seiten, bleiben bei einem Wort stehen, kommen ab und zu auch vom Weg ab und finden dann ein neues Ziel. Leser:innen sind Wanderer, Spaziergänger und Flaneure zugleich. Manche gehen dabei langsamer, andere rennen voraus. Für alle, die Literatur auch mit den Füßen erleben möchten, gibt es hier vier Lese-Tourentipps ins 18. und 19. Jahrhundert aus dem Deutschen Literaturarchiv und seinen beiden Literaturmuseen. Aufgeschrieben von Heike Gfrereis, der Leiterin der Museen.

1. Mit dem Wandern wird um 1800 auch eine andere Bewegungsart erfunden: der Spaziergang. Anders als das Wandern, das weite Strecken überwinden kann und in die freie und offene Welt hineinführt, ist das Spazierengehen ein kleinerer Ausflug in einem kultivierten Bereich Natur. Wer wandert, der benötigt einen Rucksack, um das Wichtigste bei sich zu haben. Wer nur spazieren geht, bedarf allerhöchstens eines Schirms oder Stocks. Friedrich Schiller hat dem Spaziergang ein ganzes Gedicht gewidmet. Um allein den ersten Satz des 1795 veröffentlichten Gedichts „Der Spaziergang“ zu lesen, muss man tief Luft holen und durchatmen.

Um 1800 war die Flucht aus „des Zimmers Gefängnis“ – anders als heute – vollkommen wetterabhängig. Es gab keine Funktionskleidung und auch keine geteerten Straßen: „Ich bin auf den Bergen, Dresden zu, herumgeschweift, weil es da oben schon ganz trocken ist. Wirklich habe ich diese Bewegung höchst nötig gehabt, denn diese paar Tage, auf dem Zimmer zugebracht haben mir, nebst dem Biertrinken, das ich aus wirklicher Desperation angefangen habe, dumme Geschichten im Unterleib zugezogen, die ich sonst nie verspürt habe“, klagt Schiller während der Schneeschmelze 1787: „und wenn ich, Motion halber, in meinem Zimmer springe, so zittert das Haus und der Wirth fragt erschrocken, was ich befehle.“

2. Von Schiller haben sich im Deutschen Literaturarchiv gleich zwei Spazierstöcke erhalten, von Eduard Mörike einer sowie die Zeichnung von vier Schuhabdrücken, die mitten hinein in eines der schönsten Wanderbücher des 19. Jahrhunderts führen:. „S’leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura, glei bei Blaubeura leit a Klötzle Blei.“ Wer Schwäbisch lernen oder wieder entdecken möchte, wissen will, wer im Blautopf bei Blaubeuren wohnt, was alles passieren kann, wenn man einen Zungenbrecher aufzusagen versucht, und zudem gleich noch auf eine längere Fußreise von Stuttgart über Bempflingen und Metzingen auf die Schwäbische Alb bis nach Ulm und wieder zurückgehen möchte, für den ist Mörikes bezaubernd altertümlich und doch leicht erzähltes Märchen „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ genau richtig.

Was es mit den Schuhpaaren auf sich hat, von denen eines mit V und eines mit S beschriftet ist? Als Mörikes Wanderer Seppe Stuttgart verlässt, erscheint in der Nacht davor das Hutzelmännlein und schenkt ihm zwei Paar Glücksschuhe. Seppe verwechselt die Schuhe, sodass die ganze Reise über einer der Schuhe zu seinem Partner zurücklaufen möchte, den inzwischen das Mädchen Vrone in Stuttgart gefunden hat. An Fasching werden sie und Seppe von ihren Schuhen auf ein Hochseil geführt, wo sie sich das erste Mal begegnen und gleich verloben. Es geht also gut aus!

3. Noch ein Tourentipp speziell für die Marbacher Gegend: Mörike, der in Ludwigsburg aufwuchs, wanderte häufig morgens zu seiner Cousine Clärchen Neuffer nach Benningen (Adresse: Schulstraße 4, Hof der Küferei Breymeier) und abends wieder zurück. Ein Gedicht, Erinnerung, hat er Clärchen gewidmet, in dem zwei Strophen lang der Regenschirm eine Hauptrolle spielt:

Als wir eines Tages eilig
Durch die breiten, sonnenhellen,
Regnerischen Straßen, unter
Einem Schirm geborgen, liefen;
Beide heimlich eingeschlossen
Wie in einem Feenstübchen,
Endlich einmal Arm in Arme!
Wenig wagten wir zu reden,
Denn das Herz schlug zu gewaltig,
Beide merkten wir es schweigend,
Und ein jedes schob im stillen
Des Gesichtes glühnde Röte
Auf den Widerschein des Schirmes.

(Heike Gfrereis, Leiterin der Museumsabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach)